Der Organisationskompass

Das Anbahnungsgespräch war gut gelaufen, nun saß ich mit der Leiterin der Organisationsentwicklung und ihrem Team beim gemeinsamen Mittagessen. Wir waren beim Dessert angelangt, es gab die kantinentypische Vanillecreme.
„Woher kommt eigentlich dieses Tool, das Sie vorhin beschrieben haben?“, fragte mich die potenzielle Kundin zwischen zwei Löffeln.
„Der Organisationskompass? Naja, eigentlich – also, äh, ursprünglich…“, stotterte ich. Der mit Vanillecreme gefüllte Löffel verharrte kurz vor ihrem bereits geöffneten Mund.

Was hätte ich denn sagen sollen? Unsere Tools haben nicht performt, also haben wir uns bei den nordamerikanischen Ureinwohnern das Medizinrad abgeschaut? Ich konnte mir lebhaft die La-Ola-Welle hochgezogener Augenbrauen vorstellen, die dann um den Tisch laufen würde.
Glücklicherweise fiel mir dann Harrison Owen ein, der als Erfinder der Open Space Methode gilt und das Medizinrad erstmals auf Organisationen übertragen hat. Und Birgitt Williams nutzt das Tool als zentralen Bestandteil ihres Führungskonzeptes „Genuine Contact“.
Puh, gerade noch mal die Kurve gekriegt. US-amerikanische Leadership-Experten sind sicherer Boden.

Inzwischen liegt diese Geschichte eine gewisse Zeit zurück. Heute erlaube ich mir, Herkunft und Zusammenhänge des Organisationskompasses ganz unverblümt zu schildern. Jedenfalls fast. Es macht Sinn, wenn ich vorher noch kurz erkläre, was ich eigentlich unter einer Organisation verstehe. Das nennt man einen Denkrahmen, habe ich gelernt.

Das mit dem Denkrahmen ist übrigens eine verzwickte Sache: Unsere Vorstellung davon, was eine Organisation ist, beeinflusst nämlich maßgeblich die Art und Weise, wie wir sie gestalten und führen. Wer sich also eine Organisation in Form von Organigrammen, Hierarchien oder Prozessen vorstellt, wird sie auch genau so gestalten.
Bekanntlich gibt es unzählige Denkrahmen. Man kann Organisationen als Prozesslandkarte, als Organigramm oder als Zusammenspiel aus Vision, Mission und Zielen abbilden. Man kann Modelle für exzellente Unternehmensführung entwerfen. Man kann vor jedes Modell noch mal die Vorsilbe Agil setzen. Oder irgendeine andere Vorsilbe.
Das Problem dabei: Diese Bilder sind nicht ganzheitlich. Sie bilden meist nur bestimmte Aspekte einer Organisation ab und betonen oft eine eher mechanistische Sichtweise. Die Unternehmenskultur, das Lebendige, mit dem wir täglich arbeiten müssen, taucht darin kaum auf.

Soviel also zu meiner Aussage „unsere Tools haben nicht performt“. Aber zurück zur Frage, was ich eigentlich unter einer Organisation verstehe. Die ist nämlich schnell beantwortet: Wenn ich mich mit Unternehmenskultur auseinandersetze, muss ich Organisationen als lebendige Ökosysteme verstehen. Das ist sicher einigermaßen einleuchtend, denn was nicht lebt, kann auch keine Kultur haben.

Was hat es nun mit dem Medizinrad auf sich?
Ganzheitliche Denkrahmen sind nicht gerade die größte Stärke unserer modernen westlichen Kultur. Die meisten indigenen Völker sind dafür deutlich aufgeschlossener und benützen zum Teil schon seit Jahrtausenden ganzheitliche „Tools“, um bestimmte Qualitäten zu entwickeln. Beim Medizinrad handelt es sich um das Modell eines Medizinmannes namens Sun Bear, das dieser nach eigenen Angaben in einer Vision empfangen hat. Das mag für unserer rational-analytisch geschultes Denken sehr befremdlich klingen. Deshalb entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, das dieser Denkrahmen sehr universell und außerordentlich leistungsfähig ist.

Beim Medizinrad handelt es sich um ein Rad bzw. einen Kreis, der in vier Segmente unterteilt ist. Die Segmente enthalten die vier aus der Psychologie bekannten Archetypen: Krieger, Seher, Heiler und Lehrer. Den Archetypen sind bestimmte Qualitäten zugeordnet, nämlich Lebenskraft, Vision, Liebe und Weisheit. Nachdem Harrison Owen das Modell auf Organisationen übertragen hatte, machte Birgitt Williams daraus einen anschlussfähigen Denkrahmen:

  • Der Krieger mit seiner Lebenskraft wurde zum Faktor Führung. Für die Führungskraft geht es dabei um Klarheit, Konsequenz, Entscheidungswille und Mut. Sprich: Um die Werte.
  • Aus dem Seher mit seiner Vision wurde das große Ziel der Organisation, das Kräfte mobilisiert und fokussiert.
  • Der Heiler mit seiner Liebe wurde zum Faktor Gemeinschaft, und zwar sowohl innerhalb der Organisation als auch mit dem Umfeld.
  • Der Lehrer mit seiner Weisheit wurde zum Faktor Management, das mit unterstützenden Strukturen das große Ziel in umsetzbare Schritte aufteilt.
  • Die Linien, mit denen der Kreis in vier Segmente aufgeteilt wird, wurden zum Faktor Vernetzung und Verbindung.
  • In der Mitte steht nun der Daseinszweck, also das „Wozu“ der Organisation.

Dieses Modell ist aus mehreren Gründen sehr leistungsfähig:

  1. Es beschreibt Faktoren, die in lebendigen und gesunden Organisationen sehr ausgeprägt sind. Folglich eignet es sich hervorragend als ganzheitliches Diagnosemodell für Unternehmenskultur – ein Vorgehen, das ich anschließend kurz beschreiben werde.
  2. Wenn die Segmente des Organisationskompasses in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden, eignet er sich sehr gut als Entwicklungsmodell für Organisationen.
  3. Das Modell ist skalierbar. Es kann auf eine Organisation ebenso gut angewendet werden, wie auf eine einzelne Abteilung, ein Team oder ein Projekt.

Das eingangs erwähnte Anbahnungsgespräch begann damals mit dem lakonischen Satz „bei uns hängt der Haussegen schief und wir kriegen nicht raus, woran das liegt.“ Mitarbeiter und Führungsteams der Organisation waren überdurchschnittlich fit, die Zahlen stimmten – trotzdem: Auf irgendeine Weise lief es unerklärlich zäh. Gefragt war also eine Diagnose der Unternehmenskultur.

Wer den Organisationskompass als Diagnosemodell für Unternehmenskultur anwenden möchte, sollte wissen, dass er keine Antworten liefert, sondern Fragen. Die Antworten liefern die Menschen – und zwar möglichst viele und möglichst unterschiedliche. Außerdem sollte man sich im Klaren darüber sein, dass 4 von 5 Feldern sich nicht mit Fragen des Tuns, sondern mit Fragen des Seins auseinandersetzen (nämlich Daseinszweck, Führung, großes Ziel und Gemeinschaft). Lediglich das letzte Feld, Management, leitet mit konkreten Schritten aus. Die indigenen Völker hielten offensichtlich nichts von Aktionismus…

Bei der Anwendung des Tools startet man in der Mitte: Beim Daseinszweck. Was ist Sinn und Zweck der Organisation? Zu meinen Studienzeiten konnte ich jedes beliebige BWL-Buch aufschlagen und der erste Satz auf der ersten Seite lautete: „Das Ziel jeder Unternehmung ist Gewinnmaximierung.“ Derartige Phrasen sind hier nicht gefragt. Der Daseinszweck fragt nach einer Leidenschaft.
Wenn die Frage nach dem Daseinszweck wirklich ausgeleuchtet wurde, wendet man sich der Führung zu. Wer führt die Organisation? Wie soll sie geführt werden? Sind bestimmte Werte und Prinzipien bei der Führung wichtig?
Erst jetzt setzen wir uns mit dem großen Ziel auseinander. Welcher Zielzustand soll erreicht werden? Woran werden wir merken, dass wir das Ziel erreicht haben? Was wollen wir bewusst aus diesem Ziel ausgrenzen?
Das Thema Gemeinschaft sorgt nicht selten für gequältes Lachen, weil das professionelle Miteinander eben nicht als Gemeinschaft empfunden wird. Dann sind gezielte Fragen angesagt, wie z. B. „Welche drei Konflikte stören dich im Moment am meisten?“
Erst ganz zum Schluss fragen wir nach dem Thema Management, das für Strukturen und auch für Umsetzung steht.

Der Organisationskompass ist also ein ganzheitliches Instrument mit einer leicht verständlichen Struktur. Deshalb wende ich ihn gerne und oft an. Trotzdem – es gibt da zwei Sachen, die mich immer wieder aufs Neue verblüffen:

  • Management und Führung sind zwei unterschiedliche Dinge. Diese Binsenweisheit jeder Business School ist in vielen Organisationen nicht sehr präsent. Führungskräfte zeigen selten große Bereitschaft, sich mit dem „Sein“ auseinanderzusetzen. Sie wollen lieber sofort mit dem „Tun“ starten.
  • Spätestens seit Frédric Laloux 2015 „Reinventing Organizations“ veröffentlicht hat, ist das Thema Ganzheitlichkeit in Organisationen hip. Was man da so genau macht, wenn man ganzheitlich wird, ist meist nicht so klar. Der Kompass scheint eines der wenigen Tools zu sein, die mit der Zeit tatsächlich ein Bewusstsein dafür entwickeln, was Ganzheitlichkeit mit der Gestaltung einer Organisation zu tun hat.

Eigentlich gibt es da noch eine dritte Sache. Die ist der Grund dafür, warum ich in einer Blog-Serie zum Zyklischen Denken über den Organisationskompass schreibe. Okay, er ist rund. Aber Zyklen sind Zeiträume, und das ist der Clou: Der Organisationskompass ist ein ziemlich gutes Tool. Aber richtig gut wird er erst, wenn man ihn mehrfach durchläuft. Mit verschiedenen Stakeholder-Gruppen. Nach verschiedenen Meilensteinen. In verschiedenen Projekten.

Nach und nach werden dann die Muster deutlich, nach denen das Ökosystem funktioniert.

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